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Melodien für Millionen – Mit Vicky Leandros durch Japan

Unzählige Geräusche begleiten unseren Alltag. Viele Geräusche nimmt man oft gar nicht mehr wahr oder bemerkt sie erst wirklich, wenn sie nicht mehr da sind. Es gibt Geräusche, von denen man froh wäre, sie nie wieder hören zu müssen, wie z.B. die Musikbeschallung in japanischen Kaufhäusern, genauso wie Geräusche, auf die man sehnsüchtig wartet, so wie auf den Dreiklang der Berliner S-Bahn, während man bei minus 20 Grad auf den um 42 Minuten verspäteten Zug wartet. Heute schauen wir uns einige dieser Geräusche an und gehen der Frage nach, warum man in Japan jeden Tag mit Vicky Leandros zu tun haben kann.

Die „5-Uhr-Musik“

Deutschland ist eigentlich arm an Geräuschen. Man hört die Kirchenglocken, den Eiswagen und zur Zeit ganz viele Gänse im Tiefflug über unsere Wohnung. Ich bin mir noch im Unklaren darüber, was die Gänse so laut schnattern. Bei der Lautstärke gehe ich jedoch davon aus, dass sie sich über die Deutschen am Boden und ihre Luftverkehrssteuer lustig machen. Aber es gibt so viele Geräusche, die man in Deutschland nicht hört. Keine pfeifenden Ampeln, keine mehrsprachigen Jingles in Kaufhäusern, die einen erzählen warum man gerade im tollsten Laden der Welt ist, und keine Verkäufer, die mit Megaphonen dagegen anschreien. Keine Politiker und Aktivisten, die permanent mit fetten Lautsprecherwagen durch die Wohngebiete fahren und auch keine „5-Uhr-Musik“.

Eine „5-Uhr-Musik“? Was ist das denn?
In vielen Orten sind Lautsprecher aufgestellt und zu gewissen Tageszeiten wird ein Lied gespielt. Oft um 17 Uhr, anderenorts aber auch mal um 18 Uhr oder auch frühmorgens und mittags. Aber warum sollte man so etwas machen?
Der Ausdruck „5-Uhr-Musik“ ist nur eine von verschiedenen informellen Bezeichnungen. Der offizielle Name dieser Inszenierung lautet „Shichouson Bousai Gyousei Musen“ (Rundfunk der kommunalen Katastrophenschutzverwaltung) und gibt schon eher einen Hinweis darauf, wofür dieses System gedacht ist. Während in Deutschland jedoch in weiten Teilen Sirenen und damit auch deren Erklärung in den Telefonbüchern verschwunden sind, erfreut sich die Lautsprecherbeschallung in Japan großer Beliebtheit. Neben akuten Katastrophenmeldungen (bei Erdbeben, Tsunamis, Taifunen oder nordkoreanischen Raketentests) wird sie auch für lokale Sicherheitshinweise wie Vermisstenmeldungen, Warnung vor Betrügern und Perversen in der Nachbarschaft und sonstige kommunale Dinge, wie die Aufforderung zur Wahl zu gehen oder an bestimmten Veranstaltungen teilzunehmen, genutzt. Und eben für die „5-Uhr-Musik“, die zum Testen der Lautsprecheranlagen gespielt wird und gleichzeitig wie die deutschen Kirchturmglocken als Zeitsignal dient. In einigen Kommunen werden neben der Melodie auch noch Ansagen abgespielt, z.B. mit der Aufforderung an Kinder, jetzt nach Hause zu gehen.

Was die „5-Uhr-Musik“ mit Vicky Leandros zu tun hat

Die Melodien, die dabei gespielt werden, unterscheiden sich je nach Ort und Uhrzeit, allerdings gibt es eine Reihe von beliebten Melodien, die in vielen Kommunen genutzt werden.  Einige dieser Melodien möchte ich heute vorstellen.

Eine dieser beliebten Melodien wird an meinem Wohnort in Okinawa um 12 Uhr gespielt: „Koi wa mizuiro“ (Die Liebe ist blau), basierend auf einer japanischen Cover-Version des gleichnamigen französischen Liedes (L’amour est bleu), mit dem die in Deutschland wohnende griechische Sängerin Vicky Leandros beim Eurovision Song Contest 1967 für Luxemburg angetreten ist. Nicht nur ganz schön international, sondern auch ziemlich beliebt. Die Melodie wird an diversen Schulen und Universitäten ebenso genutzt wie in Ostjapan als Bahnhofsmelodie.

Die „12-Uhr-Musik“ in Okinawa…

… im Vergleich mit dem Original von Vicky Leandros vom Eurovision Song Contest 1967.

Bleiben wir international: Auch die 17-Uhr-Musik in Ginowan gehört den landesweit verbreiteten Melodien und hat Wurzeln im Ausland. „Ieji“ (Heimweg) ist eine japanische Adaption des amerikanischen Songs „Going Home“, welches wiederum eine Adaption des Themas des 2. Satzes der 9. Sinfonie (Aus der neuen Welt) des böhmischen Komponisten Dvořák ist. Das Video oben stammt aus Saitama. Am Ende gibt es eine Durchsage, dass die Kinder jetzt bitte nach Hause gehen mögen und dabei auf den Verkehr achtgeben.

Zum Schluss des heutigen Artikels gibt es noch zwei Melodien, die lokal gespielt werden:

6 Uhr früh in Minamisanriku in Miyagi. Der Ort wurde im März 2011 durch den Tsunami großflächig zerstört. Das Lied „Zankoku na tenshi no teeze“ (Die Thesen eines grausamen Engels) entstammt den Soundtrack des Anime „Neon Genesis Evangelion“. Der Komponist Hidetoshi Satou stammt aus Minamisanriku.

In Tateyama in der Präfektur Chiba wird seit Weihnachten 2012 „Forever Love“ der Rockband X-Japan als Katastrophenschutz-Lied gespielt. Die Gründungsmitglieder der Band Yoshiki und Toshi stammen aus Tateyama

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